Kostbare Scherben - Die Reparatur lohnt sich

Kintsugi-Schale
Bildrechte Marco Montalti

Morgens schaut mich aus dem Badezimmerspiegel mein Gesicht an. Ich versuche ein Lächeln und frage mich: Bin ich schön? Naja, mal mehr mal weniger. Aber ganz klar: Ich möchte gern schön sein. Denn wer möchte das nicht, schön sein und attraktiv? Als schön gelten schlanke Menschen und glatte, jugendliche Gesichter, symmetrisch und makellos. So wie bei Supermodells und Instagramstars. Da kann ich ganz sicher optisch nicht mithalten. Aber muss ich das? Und schön – ist das wirklich nur eine makellose Oberfläche? Ist das die einzige Form von Schönheit? Das wäre ja ziemlich traurig für alle die älter als 20 sind und vielleicht keine Idealmaße haben.

Ich glaube es gibt noch ganz andere Schönheit. Mir fällt das Gesicht meiner Großmutter ein, die über 100 Jahre alt geworden ist. Nicht glatt, aber attraktiv. Denn es erzählte ihre ganze Lebensgeschichte. Ich denke an die Rinden alter Bäume – rissig und rau, die ebenfalls Geschichten erzählen von Stürmen und Verletzungen. Und ich denke daran, wie in Japan Keramikschalen repariert werden, die zerbrochen sind. Die Scherben werden nicht nur kunstvoll wieder zusammengesetzt, sondern in den Kitt, der die Stücke neu verbindet, wird Goldstaub eingearbeitet. Kintsugi heißt diese alte Handwerkstechnik. Die Risse, das Kaputte – es wird also nicht versteckt, sondern es wird dadurch besonders sichtbar. Die Keramik wird durch die Reparatur etwas ganz Besonderes, sie glänzt sogar. Sie erzählt davon, dass etwas zerbrochen ist und doch wieder heil werden konnte. Sie ist nun kostbar, denn jemand hat sich viel Mühe gegeben mit der Reparatur. Das macht sie wertvoll und besonders.

Die Passionszeit vor Ostern erinnert an das Leiden Jesu, an Verrat, Feigheit, Verfolgung, Intrigen – an alle Varianten menschlicher Abgründe. Diese besondere Zeit bietet Gelegenheit, auch über die Brüche und Scherben unseres eigenen Lebens nachzudenken. Und zu erleben, dass Gott unsere Wunden heilen will. Jesus Christus ist ja genau deshalb unser Heil-and, weil er das Zerbrochene, das Verletzte nicht endgültig zerstört, sondern es achtet und wieder zusammensetzt. Seine Zuwendung und Liebe sind der Goldstaub, der die Scherben unserer Existenz wieder verbindet zu einem neuen, kostbaren Ganzen. Die Risse werden sichtbar bleiben, wir müssen sie nicht leugnen. Und wir müssen sie nicht verstecken. Sie können sichtbar sein und sogar eine ganz eigene Schönheit haben.

Ute Baumann